Sonntag, 24. Juli 2011

Im Sturm

Wenn es jemals in der Welt eine bewiesene und geprüfte Geschichte gab, dann die der Vampire. Es fehlt an nichts: offizielle Berichte, Zeugenaussagen von Gewährspersonen, von Chirurgen, von Priestern, von Richtern: die Beweise sind vollständig.“ [Jean-Jacques Rousseau]

Das Meer peitschte gegen die Hafenmauern. Das Wasser war tiefschwarz und aufgewühlt, fast wirkte es wütend oder boshaft. Die Straßen waren wie leer gefegt, der heftige Sturm hielt alle in ihren Häusern gefangen. Zwischendurch gab es ein Grollen und ein heller Blitz zuckte über den schwarz bedeckten Himmel. Es war die perfekte Szenerie für einen Horrorfilm.
Ich ging weiter an den schützenden Hauswänden entlang, der Wind pfiff durch die Straßen und durch den Regen hatten sich viele Rinnsale gebildet, die die Straße herunter führten. Ich zog meinen langen dunkelblauen Mantel enger, während ich versuchte den viele Pfützen auszuweichen. Trotz meiner Versuche waren meine Schuhe bald komplett durchweicht und Kälte und Nässe zogen sich meine Beinen hinauf. Ich bog rechts ab und landete in einer kleinen Gasse. Die Hafengegend war so verwinkelt, dass man sich hier nur als Ortskundiger nicht verlaufen konnte. Ich erhöhte mein Tempo ein wenig. Schließlich erreichte ich eine kleine Hafenkneipe dessen ‚Geschlossen’-Schild gefährlich im Wind hin und her wehte und dabei immer wieder gegen die Scheibe der Eingangstür schlug. Das Klackern ging im Sturmlärm zwar fast unter, ließ die Gegend aber dennoch gespenstisch verlassen wirken. Zwei Häuser weiter blieb ich stehen. Das Haus war ein alter Backsteinbau, die Eingangstür war schwer und robust. Ich öffnete sie und gelangte in einen breiten Flur. Meine Schuhe quietschten auf der Treppe, als ich sie hinauf ging, im ersten Stock klopfte ich an der Tür. Stille. Dann hörte ich wie sich jemand Richtung Tür bewegte. Sie öffnete sich und ein großer, gut gebauter Mann stand vor mir. Er hatte dunkelbraune Haare und leichte Naturlocken, seine Augen glänzten grünlich. Arian.
Er lächelte mich an: ‚Amelié? Schön das du da bist.’ Er zog mich an sich und ich gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. Meine Lippen glühten und mein Körper stand unter Strom. ‚Ja, ich dachte ich komme mal vorbei.’, sagte ich vorsichtig und trat in seine Wohnung. Er nahm mir den nassen Mantel ab. ‚Bist du etwa gelaufen? Bei dem Wetter?’, fragte Arian besorgt. Ich nickte: ‚Natürlich. Mir ist nicht kalt und die Nässe macht mir nun wirklich nichts aus.’ Er schüttelte nur ungläubig den Kopf. Ich fixierte seine unglaublich grünen Augen und Raphaels Worte klangen mir im Kopf nach. ‚Du musst es tun.’ Raphael gehörte zu uns. Oder ich gehörte zu ihnen. Wie auch immer man es sehen wollte. Und nun stand ich vor Arian mit der Gewissheit, dass ich etwas ändern musste.
‚Hast du Durst?’, fragte Arian und wies mich ins Wohnzimmer. Ich ging hinein und setzte mich auf die dunkle Ledercouch. ‚Ähm, nein, danke. Ich habe keinen Durst, Arian.’, sagte ich. Ich mochte seine kleine Wohnung, sie hatte Holzfußboden und pastellfarbene Wände. Alles in allem wirkte sie sehr warm und einladend, aber dennoch modern. ‚Bist du sicher, dass du nichts trinken möchtest?’, versicherte sich Arian, während er sich ein Glas Wasser einschenkte. Ich nickte.
Er ließ sich neben mich auf das Sofa fallen. ‚Gut siehst du aus.’, sagte er und lächelte. Ich weiß, dachte ich. Natürlich dachte er das. Er strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Finger hinterließen eine flammende Hitze auf meiner Haut. Ich lächelte und sah ihm in die Augen. Sein Blick war so ehrlich und warm, dass es mir fast weh tat. Ich schluckte und fuhr im durchs Haar. Meine Finger kribbelten und ich fühlte Anspannung in mir aufsteigen. Wie immer wenn ich ihn berührte oder er mich. Damit konnte ich umgehen.
Draußen hörte ich den Sturm toben. Er rüttelte an den Fensterläden.‚Gibt es einen besonderen Grund warum du ausgerechnet heute, bei dem Sturm, vorbei kommst?’, fragte Arian. ‚Nein,’, sagte ich, ‚ ich wollte nur mal wieder vorbeigucken. ... Ich hab dich vermisst.’ ‚Amelié ...’, seufzte er, ‚sonst können wir uns doch auch nur so selten sehen. Und ausgerechnet bei diesem Wetter kommst du zu Fuß zu mir?’ Ich senkte meinen Blick. Meine Finger kribbelten und ich verschloss sie ineinander. Er legte seine Hände darum und versuchte meinen Blick aufzufangen. ‚Ich ... ich wollte dich einfach sehen.’, die Worte brannten auf meiner Zunge. Ich schluckte. Raphael würde jetzt sagen, diese Tragik sei ja nicht normal. Er würde sagen, ich solle endlich das tun, wozu ich hier war. Ich solle diese nervenaufreibende Situation endlich beenden. Aber ich konnte nicht. So sehr mich Raphaels Worte auch im Kopf verfolgten. Arian saß hier vor mir, seine warme Hände ließen meine Spannung steigen und ich wollte es so und nicht anders. Ich schloss meine Augen und lehnte mich an Raphaels Brust. Meine Haut schien zu vibrieren und mein Körper stand unter größter Spannung, aber ich ließ meinen Kopf dort liegen. Ich hörte Arians Atemzüge und seinen Herzschlag.
‚Ich liebe dich, Amelié. Das weißt du.’, murmelte Arian und ließ sein Kinn vorsichtig auf meinen Kopf sinken. Das die Vorsicht unwichtig war, weil er mir sowieso nicht wehtun konnte, wusste er nicht. ‚Ich liebe dich auch.’, flüsterte ich unendlich langsam und spürte wie etwas in mir aufstieg. Die übermäßige Spannung und das Kribbeln waren nicht das Problem, aber ich wusste, dass das was ich tat falsch war. Unglaublich falsch. Ich wusste, dass es keinen guten Ausweg für uns gab. Ich wusste, dass alles nicht so bleiben konnte. Und ich wusste, dass ich selbst an der Situation schuld war. Ich hatte Arian vor einiger Zeit kennen gelernt. Raphael und Felicita hatten mir sofort davon abgeraten und gesagt, dass es nicht gut gehen würde. Doch ich hatte widersprochen. Wir hatten uns öfter getroffen und ich hatte mich verliebt. Das war der Fehler. Der Fehler, der zur Katastrophe führen konnte. Und nun musste ich es ausbügeln. Es war meine Aufgabe und ich hasste mich dafür.
‚Arian?’, flüsterte ich. ‚Ja?’ ‚Es tut mir Leid.’, sagte ich und spürte wie ich leicht erzitterte. Ich merkte, dass ich nicht länger bei ihm an der Brust liegen konnte. Er schüttelte leicht den Kopf: ‚Was tut dir Leid? Dir muss doch nichts Leid tun.’ ‚Alles, Arian. Es ist mein Fehler.’, sagte ich leise. Ja es war mein Fehler und er musste jetzt genauso unter ihm leiden. Ich presste meine Zähne zusammen. ‚Sag doch nicht so was.’, schmunzelte er. ‚Du hast keine Ahnung, Arian. Es tut mir so leid.’, sagte ich nachdrücklich und löste mich von ihm. Ich spürte Übelkeit in mir aufsteigen. Ein Gefühl, dass ich schon eine Ewigkeit nicht mehr verspürt hatte.
Ich stand ruckartig auf. Sein Blick lag auf mir, so unheimlich schwer und fragend. Ich sah weg. Wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich es niemals schaffen. Ich würde uns alle verraten und die Bürde die mir auferlegt war, würde auch die anderen erdrücken. Und das konnte ich in der Gestalt die mich gefangen hielt, nicht zulassen. Ich hatte Verantwortung. Genau wie die anderen und wer mit dieser Verantwortung nicht umgehen kann, der wird aus den bitteren Konsequenzen lernen müssen, so wurde es mir immer gesagt. Und nun spürte ich es am eigenen Leib. ‚Vampire können keine Menschengeschöpfe lieben, Amelié, sieh es ein.’, zischte Raphaels Stimme in meinem Kopf. Raphael und die anderen Vampire zu denen ich gehörte, gehören musste. Mein ganzer Körper zitterte, als ich mich wieder zu Arian umdrehte. Ich spürte, dass meine Augen gefährlich zu leuchten begannen, so wie sie es immer taten, wenn ich auf Jagd war. Arian stand auf und stellte sich direkt vor mich, unsere Körper waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt und ich schmeckte seinen Geruch, er war so wunderschön.
Er sagte nichts, er sah mir nur in die Augen und ich war sicher, dass er das gefährliche Leuchten darin sah. Das er als Mensch, die Gefahr spüren musste, die von mir ausging. Doch er bewegte sich nicht. Er sah direkt in mein Gesicht, ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut. Innerlich zerriss es mich, eine unendliche Spannung erfüllte meinen ganze Körper. ‚Du musst ihn umbringen, Amelié.’, flüsterte Raphael in meinem Kopf. Doch gleichzeitig empfand ich diese schreckliche Liebe. Arians Lippen näherten sich langsam den meinen und ehe ich reagieren konnte versiegelten sie sie. Ich schloss die Augen. Meine Lippen brannten. Mein Körper vibrierte und tobte vor sich hin. Schließlich löste er seine Lippen wieder von meinen und senkte seinen Blick. ‚Es ist okay, Amelié.’, sagte er mit zittriger Stimme, ‚ Ich liebe dich.’
Ich spürte unheimliche Verzweiflung in mir, doch ich hatte einfach keine Wahl. Der Zeitpunkt war da, an dem ich handeln musste. Meine Augen begannen immer mehr zu leuchten, mein Körper zitterte vor Anspannung und lange würde ich mich nicht mehr halten können.
‚Wer ... was bist du, Amelié?’, flüsterte Arian. Ich presste meine Zähne aufeinander. ‚Ein Vampir.’, brachte ich hervor. Dann machte ich einen Schritt auf ihn zu. Sein süßer, menschlicher Geruch war so unglaublich stark, dass mein Körper vor Anspannung bebte. Arian bewegte sich nicht, als hätte er in den letzten Minuten geahnt, was passieren würde. Als hätte er geahnt, das sein Schicksal gerade eine unerwartete Wendung nahm. Ich legte meine Hand an seinen Hals, dann senkte ich meinen Kopf. Ich fuhr mit den Lippen über seinen Hals. Ich spürte wie das Blut in seiner Halsschlagader pulsierte. Noch einen Moment hielt ich inne und sah in sein Gesicht. ‚Vergib mir’, flüsterte ich. Seine Augen waren geschlossen. ‚Ich vergebe dir.’, sagte er leise, ehrlich und voller Liebe. Dann setzte ich meinen Mund an seinen Hals. Ich spürte meine Zähne an seiner Haut und biss vorsichtig zu. Blut lief in meinen Mund. Rein, warm und benebelnd und dann war es zu spät.
Es dauerte nicht lange. Das Monster in mir, das durch Blut zum Leben erweckt wurde, hatte sich wieder zurückgezogen. Ich saß auf Knien vor ihm und hielt seine Hand. Sie war kalt und bleich. Es war vorbei. Ich hatte die Bedeutung von Raphaels Worten kennen gelernt. ‚Vampire können keine Menschengeschöpfe lieben.’ Ich schüttelte langsam den Kopf und vergrub ihn in meinen Händen. Wäre ich ein Mensch gewesen, ich hätte geweint.

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